Schulterprobleme beim Hund
Medizinisches Denken basiert auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und tierärztlicher Erfahrung. In der Orthopädie sind die Prinzipien und Erkenntnisse der Biologie und der Mechanik von zentraler Bedeutung! Aus diesem Grund ist die Übertragung der physikalischen Gesetze der Mechanik auf Probleme der Orthopädie zurück zu führen! Somit lässt sich die Entstehung von Überlastungserscheinungen, Verschleissprozessen (degenerative Erkrankungen) und Deformationen gut mit bekannten Problemen aus der Technik vergleichen. Die Gelenke des Hundes, aber auch des Menschen, werden als Kugel- und Scharniergelenke bezeichnet, deren Belastung durchaus an technischen Gelenken gespiegelt werden kann. Fehlerhafte Konstruktionen müssen sich deshalb als Formstörungen dauerhaft auf die Funktion der Strukturen auswirken und erhalten bei der Beurteilung orthopädischer Erkrankungen ein besonderes Gewicht! Um hier meinen Lieblingsvergleich mit dem Auto darzustellen; falls der Motorblock, ein 8-Zylinder einen viereckigen Zylinder aufweist, läuft der Motor unregelmässig und der typische Motorensound geht verloren! Muss man als Tierarzt und Orthopäde eine Lahmheit eines Hundes beurteilen, ist es einerseits zwingend, dass das Bewegungsmuster des Hundes klar betrachtet und registriert wird. Mit den heutigen Mitteln der Videotechnik stellt dies absolut kein Problem dar. Das Aufnehmen des Bewegungsmusters ermöglicht den Verlaufsprozess zu dokumentieren, und damit den Erfolg der Therapie besser abschätzen zu können. Es kommt nicht selten vor, dass eine Lahmheit, vor allem wenn sie schon länger besteht, sich innerhalb einer Therapie, trotz Verbesserung ändert. In der Pferdemedizin nennt man dies „Überspringen“, wenn die Lahmheit auf dem vermeintlich kranken Bein besser wird, dafür eine andere Gliedmasse anschliessend ein Hinken zeigt. Zum anderen sind diagnostische Hilfsmittel wie Röntgen, stehende Röntgen, orthopädischer Ultraschall, oder notfalls auch CT und MRT unerlässlich, um die mechanische Belastung und Belastbarkeit der orthopädischen Strukturen zu beurteilen.
1) Die Anatomie der Schulter beim Hund
Der Schultergürtel links und rechts verbindet die beiden Vordergliedmassen, also die knöchernen Strukturen mit dem axialen Skelett (Zum axialen Skelett gehören Rückgrat, Kreuzbein, Rippen und Brustbein), am Übergang zwischen Hals- und Brustwirbelsäule. Die knöcherne Struktur besteht aus Schulterblatt (Scapula) und dem Oberarm (Humerus)!
Der Hund sowie das Pferd haben kein Schlüsselbein. Die Verbindung ist eine Weichteilverbindung zwischen Schultergliedmasse und Brustkorb (Synsarkose)! Der Gelenkkomplex der Schultergliedmasse besteht aus zwei Gelenken:
- Ein falsches Hauptgelenk: das Scapulothorakalgelenk (Schulterblatt-Brustwand-Gelenk)
- Ein richtiges Hauptgelenk: Scapulohumeralgelenk (Buggelenk)
Beide Gelenke sind miteinander mechanisch verbunden und arbeiten simultan (gleichzeitig). Sehr wichtig dabei ist, dass die Verbindung zwischen dem Schulterblatt und der Brustwand eine Weichteilverbindung ist, dessen Muskulatur im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule ansetzen und für die Bewegung der Schultergliedmasse verantwortlich ist. Somit ist der Schultergürtel für die Vorwärts- und Rückwärtsbewegung zuständig sowie die seitliche Befestigung der Schultergliedmasse an die Brust! Der Schultergürtel hat demzufolge zwei Funktionen:
- Stabilen Halt geben
- Stossdämpferfunktion während der Bewegung
Quelle: König-Liebig (3. Auflage) Anatomie der Haussäugetiere
Quelle: König-Liebig (3. Auflage) Anatomie der Haussäugetiere
Quelle: König-Liebig (3. Auflage) Anatomie der Haussäugetiere
Quelle: König-Liebig (3. Auflage) Anatomie der Haussäugetiere
Quelle: König-Liebig (3. Auflage) Anatomie der Haussäugetiere
2) Die Anatomie der Schulter beim Mensch
Die Schulter setzt sich funktionell aus vier Gelenken zusammen: das Gelenk mit dem Oberarmkopf mit dem Schulterblatt (Glenohumeralgelenk), das Akromion (oberer Teil des Schulterblatts) mit dem Schlüsselbein (Akromioklavikulargelenk), das Schlüsselbein mit dem Brustbein (Sternoklavikulargelenk) und als letztes das Schulterblatt mit der Brustwand.
Störungen und orthopädische Erkrankungen können in allen Abschnitten auftreten. Der Nervenknoten (plexus brachialis) sowie der Nervus axillaris sind eng mit den knöchernen und Bänderstrukturen verbunden die ebenfalls zu Schmerzen und funktionellen Problemen führen können.
Das Glenohumeralgelenk weist einen besonders grossen Bewegungsumfang auf. Der Kopf des Oberarms hat Kontakt mit der flachen und kleinen Gelenkspfanne, so dass der Weichteilführung im Bereich der Schulter eine grosse Bedeutung zukommt. Was zu Folge hat, dass an den schulterumfassenden Weichteilen wesentlich häufiger degenerative Veränderungen auftreten und diese klinisch bedeutsamer sind als die Veränderungen an knöchernen Strukturen der Schulterregion! Schulterschmerzen sind zum grössten Teil durch Weichteilveränderungen bedingt!
Andererseits können diese Schmerzen auch durch Probleme sowie Veränderungen der Halswirbelsäule ausgelöst werden.
3) Die Biomechanik der Schulter beim Hund
Da der Hauptteil des „Schultergelenks“ eine Weichteilverbindung zwischen Schultergliedmasse und Brustkorb darstellt, kann man nicht von einem Gelenk sprechen sondern von einer Aponeurose (Weichteilverbindung), die vor allem durch ein „Gleiten des Schulterblatts“ gekennzeichnet ist!
Auf diese Weise wird die Streckung und Biegung der Schultergliedmasse ermöglicht aber auch das An-(Adduktion) und Absetzen (Abduktion) der Schulter (Pfote) gewährleistet!
Muskeln am Schulterblatt sowie Muskeln die an der Halswirbelsäule oder den Brustkorb ansetzen, können so ihre Funktion wahrnehmen!
4) Form-Funktions-Veränderungen der Schulter/ Schultergliedmasse
Wie oben bereits erwähnt, sind beim Menschen 80% der Schultererkrankungen, Weichteilerkrankungen, also Muskeln, Bänder, Sehen sowie Nerven und deren Kombination!
Da wir beim Hund eine „Synsarkose“ (Weichteilverbindung der Schulter an die Brust) haben, ist offensichtlich, dass Erkrankungen der Weichteile im Bereich der Schulter sehr häufig vorkommen.
Ausnahmen sind OCD (Osteochondrosis dissecans), Omarthrose (Arthrose der Schulter) oder Osteodystrophie deformans (gestörter Knochenstoffwechsel)!
Auf Grund dieser anatomischen Beschaffenheit ist die Rotationsachse vom Schulterblatt sowie die 3-D-Position ursächlich für die diversen Lahmheiten der Schulter verantwortlich. Durch orthopädische oder digitalisierte Ganganalysen werden diese aufgesucht und Form-Funktionsveränderungen mittels manueller orthopädischer Therapie gelöst.
In der Folge können die mechanischen und/oder entzündlichen Erkrankungen dieser Strukturen dadurch ausheilen.
5) Die OCD (Osteochondrosis dissecans) Knorpelerkrankung
Die OCD (Osteochondrosis dissecans) ist eine Knorpelwachstumsstörung der jungen Hunde, die vor allem im Alter von 3 – 8 Monaten betroffen sind. Zur Zeit ist es auffallend, dass auch ältere Hunde betroffen sein können!
Die OCD kommt in der Schulter, Ellenbogen, aber auch im Tarsus (Sprunggelenk) vor! Die Ursache der OCD ist in der Genetik, in der Schnelligkeit des Wachstums, der Ernähung aber auch in der Biomechanik(Belastung/Fehlbelastung) zu finden.
Durch Veränderung der Druck- und Zugkräfte in der Schulter (Buggelenk), ist der Umbau des Gelenkknorpels verändert und es entsteht ein Knorpelrinne, aus der bei bestehender Problematik eine Knorpelschuppe abgelöst wird. Es entsteht eine mittel- bis hochgradige Lahmheit. Die Diagnose kann anhand der seitlichen Röntgenaufnahme gestellt werden. Im ersten Fall sehen sie eine Hund, Mallinois, 5 Monate alt mit hochgradiger Lahmheit. Es ist eine OCD! Das Röntgenbild ist unten. Im zweiten Fall ist ein Dalmatiner mit leichtgradiger Lahmheit und im Röntgen einer OCD! Nach der manuellen orthopädischen therapie ist die Lahmheit weg, das Laufbild ohne pathologischen Befund und im Kontrollröntgen 6 Wochen danach ist die abgelöste Knorpelschuppe sichtbar. Da der Hund zu diesem Zeitpunkt lahmfrei ist, wird auch keine weitere chirurgische Intervention gemacht. Als Folge davon, auch nach erfolgreicher OP kann eine Omarthrose (Schulterarthrose) entstehen!
In den oben angehängten Röntgenbildern sehen sie eine OCD-Schulter, die trotz OP eine massive Omarthrose (Schulterarthrose) ausgebildet hat und beim Hund immer wieder Lahmheiten und Aufstehbeschwerden verursachen. Dies bedeutet eine absolute Form-Funktions-Veränderung, die mit der orthopädischen manuellen Therapie so korrigiert wird, dass der Hund auch mit der Arthrose möglichst Beschwerdefrei leben kann!
6) Impingement der Schulter
Der Ausdruck „Impingement“ bedeutet eine „Entzündliche Enge“ des subakromialen Raumes der Schulter beim Menschen! Da beim Hund die Schulter nur aus zwei und nicht vier Gelenken besteht, ist diese Situation nur zum Teil vergleichbar! Grundsätzlich kommt die Entzündung ebenfalls in der Supraspinatussehne zum Tragen. Aber erst durch eine Veränderung der Rotationsachse des Schulterblattes entsteht eine Entzündung im „Gelenk“ zwischen Brustwand und Buggelenk! Durch die veränderte Rotationsachse der Schulter, verändern sich die Zug- und Druckkräfte in Bizepssehne und Supraspinatussehne derart, dass hier eine Reibeentzüdnung entsteht, schlimmstenfalls kleine Risse! Somit ist dies wiederum eine Form-Funktions-Veränderung. Durch orthopädische Manipulation kann diese Fehlstellung korrigiert werden, die Entzündung muss behandelt werden! Ist die Entzündung ausgeheilt kann durch die gezielte Rehabilitation der Hund wieder an die Arbeit gewöhnt und aufgebaut werden.
Sind grössere Verletzungen im Sehnenapparat entstanden, hat man heute die Möglichkeit durch Injektion von Thrombozyten-Infiltraten die Regeneration der Sehnenstruktur zu verbessern. Durch unsere neu entwickelte digitalisierte Bewegungsmessungen (canine loccomotor analysis) können wir diesen Prozess jederzeit objektiv kontrollieren und dementsprechend auch korrigieren!
7) Myogelose der Schultermuskulatur
Definition: Bei oberflächlicher Lage meist gut tastbare Verhärtungen in der Muskulatur infolge eines reflektorisch ausgelösten Dauertonus.
Dieser Dauerdruck wird häufig durch eine veränderte Rotationsachse der Schulter ausgelöst. Die Folgen sind Schulterlahmheiten einerseits beim Aufstehen, bei chronischen Fällen sind diese Lahmheiten permanent vorhanden, werden aber unter Belastung stärker und die Schultergliedmasse wird zur Entlastung nach aussen gestellt!
Bei der Palpation der Schultermuskulatur werden die schmerzhaften Zonen sehr leicht aufgespürt. Der Hund bestätigt die Schmerzhaftigkeit ausserdem in den meisten Fällen mit Aufjaulen.
Mittels Ultraschall können die „taugth bands“ ebenfalls eindeutig ermittelt werden.
In diesem Fall ist die Myogelose der Schultermuskulatur eine Form-Funktions-Veränderung, die durch gezielte orthopädisch manuelle Therapie korrigiert werden kann. Eine medikamentelle Therapie zielt auf die Entzündung der Muskulatur, allenfalls kann die Physiotherapie noch unterstützend eingesetzt werden.
8) Tumorerkrankung der Schultergliedmasse
Knochentumore in der Schulter/ Oberarmregion kommen immer wieder vor! Diese betreffen meist ältere Hunde (> 10 Jahre) die ein Hinken als Symptomatik vorweisen!
Anfänglich nur beim Aufstehen, dann zusehends auch unter Belastung! Bei der orthopädischen Untersuchung wird eine hochgradige Muskelatrophie (Verlust der Muskulatur) im Schulterblatt/ in der Schulter deutlich. Die restliche Muskulatur ist auf Palpation meist zusätzlich noch schmerzempfindlich! Streckung und Biegung der Schulter sowie im Buggelenk sind schmerzhaft und dadurch eingeschränkt!
Wie im vorliegenden Fall wurde zuerst ein Physiotherapeut kontaktiert. Da die Therapie keinen Erfolg zeigte, wurde mir der Hund vorgestellt! Bei solchen Primärtumoren beschleunigt sich der Verlauf der Erkrankung und immer mehr Allgemeinsymptome kommen zum Vorschein.
Zu dem Zeitpunkt, wenn der Hund das Essen verweigert, versagen die palliativen Therapiemassnahmen und die Euthanasie ist angezeigt.
Bestrahlung und Chemotherapie einerseits sowie die Amputation der Schultergliedmasse ist der „golden standard“ der Therapie, wird aber auf Grund der Invasivität nur in seltenen Fällen von den Besitzern gewählt!
Als Alternative können Infusionstherapie mit Medikamenten aus der Humanmedizin, die den Tumor (die osteoklastische Tätigkeit = Knochenabbau) verlangsamen, in Betracht gezogen werden! Wird diese Methode bestimmt, müssen Laborparameter wie weisse und rote Blutkörperchen, Nierenwerte, Leberwerte und Serumkalziumspiegel überprüft werden und in der Norm sein!